Geburtstagsgabe an einen jungen Mann
zu seinem Traum am Vorabend
Der Sohn deines Bruders M–b–ch übergab dir heute die Erzählung eines Traums, welcher eben am Vorabend seines Geburtsfests im Morgenschlaf ihn beunruhigte, und zugleich mit seinen Bildern ihn aufregte; er bittet nun um Aufklärung oder Deutung dieses Traums. Ich will es versuchen, ihm den Schlüssel zu diesem Phantasiegemälde zu geben, vielleicht findet er dann die Lösung selbst.
Vor allem müssen wir da die Nebenumstände mehr ins Auge fassen, wann und unter welchen Umständen dieser nächtliche Traum in ihm sich erzeugte, und dann zur Erklärung übergehen, erstens, warum Ich ihn zugelassen, und zweitens, was Ich eigentlich dieser jugendlichen Seele mit diesen Schreckensbildern sagen wollte.
Dieses Gesicht wurde also geistig geschaut, und zwar gerade am Vorabend seines Geburtsfests. Nun die Erinnerung an den Tag, wo ein Mensch das Licht der Welt erblickt, ist wichtig genug zu seiner alljährlichen Feier. Um eigentlich zu zeigen, wie dieser Tag gefeiert werden sollte um dem inneren Menschen zu nützen, soll jetzt Meine Aufgabe sein, solches näher zu beleuchten.
So wisse denn, Mein Kind, der Tag, an dem du die Welt erblicktest, ist für dich schon darum wichtig, weil durch diesen Akt Ich dich aus Millionen Wesen auserlesen habe, als Geist, mittelst der menschlichen Überkleidung einst auf Meine Kindschaft Anspruch machen zu können.
Mit diesem Tag trittst du diese dornenvolle Laufbahn an, und viele dir noch unbekannte Sorgen und Leiden erwarten dich, nicht um dich zu strafen, nein, sondern dich zu läutern, zu hohen Zielen dich hinaufzuziehen in die Sphäre Meines Reichs, wo dann das Ende des irdischen Prüfungslebens erst der Anfang eines geistigen sein wird. Der Tag ist deshalb wichtig für dich, denn sieh, schon hast du mehrere Jahre diesen Tag sich wiederholen gesehen, wo du am wenigsten daran dachtest, wie du eigentlich diesen Tag in deinem Inneren feiern sollst, außer dem Empfang des Segens deiner Eltern und der Glückwünsche deiner Verwandten und Geschwister.
Jetzt, wo die Vorsorge deines leiblichen Vaters dir den rechten Weg zu Mir, und auch die wahre Bestimmung deines Erscheinens auf dieser Erde näher aufgeklärt hat, jetzt natürlich ist der Geburtstag auch für dich ein bei weitem wichtigerer Tag geworden, als er dir in früheren Jahren erschienen ist. Um dir nun einen geistigen Wink zu geben, dass dem Geburtstage auch für dich, wie einst für Mich und die dort lebenden Menschen die geweihte Nacht vorausging, welch letztere ihr bald wieder feiern werdet, so wollte Ich auch eine ähnliche Nacht deinem Geburtstag voraussenden, um dich aufmerksam zu machen auf das was dich noch erwartet, und was du, um deine Bestimmung als Mein Kind zu erfüllen, noch zu bekämpfen haben wirst.
Nun sieh, es träumte dir, du gingest auf Besuch; nun wenn deine Seele nächtlich wo die Außenwelt für sie verschlossen ist, auf Besuch ausgeht, so will das so viel sagen als die Seele stieg in ihr Inneres hinab, und sah sich dort ein wenig um, wie es denn da wohl aussieht.
Deine Seele scheint mit diesem Besuch nicht ganz zufrieden gewesen zu sein, denn das Erdbeben und deine eigene Erschütterung selbst zeigen im Bild genügend, dass sie alles Gesehene zerstören wollte, und alle Keime der Leidenschaften, die in der Folge wachsen könnten, unter dem Bahrtuch [Sargtuch] der Vergessenheit als Leichen begraben sehen möchte.
Der Körper oder das Fleisch, welches bei diesen Bestimmungen bedeutend zu kurz gekommen wäre, erhob seine Beschwerden und mächtigen Einwürfe, die ebenso haltlos und verkehrt waren, als wie das Gebaren von jemanden, der ein Schiff, welches doch ins Wasser gehört, auf einen Berg ziehen möchte.
Der Sieg der Seele aber, die diese Einwürfe und deren Ohnmacht voraussah, vernichtete so schnell als möglich die Keime der meisten unreinen Triebe; diese plötzliche Vernichtung und Verwesung erregte in dir, Mein Kind, den momentanen Schrecken, du erwachtest, und nach Meiner Erklärung dich sehnend, schliefst du wiederum ein, bis der Morgenstrahl der Sonne dich ins gewöhnliche Leben zurückrief.
Nun sieh, diesen halb bildlichen halb wahren Traum ließ Ich zu, und gerade am Vorabend deines Geburtstags, damit du eben beim Anbrechen eines neuen Jahrs dich mehr in deinem Inneren belauschen mögest, wie deine Seele im Schlaf öfters zum Besuch in die innersten deines Herzens hinabsteigt, dort Rundschau haltend, so mögest du, wenn du wieder auf den Hügel oder höheren Standpunkt deines geistigen Ichs zurückkehrst, dann nicht wie im Traum durch Erderschütterung zerstörte Häuser und mit Leintüchern bedeckte Leichen, sondern feste Gebäude deines menschlichen Lebens, die keine Weltereignisse umstürzen können, und statt der Leichen oder toten Ansichten, lebende, schön geformte Wesen, als Lichtgedanken und heilige Vorsätze für das beginnende Jahr antreffen.
Lass daher ruhig von der Welt oder deinem Fleisch dir Einwürfe machen, so fein oder so plump sie auch seien wie die Idee, ein Schiff auf einen Hügel hinaufzuziehen, so wirst du doch nicht fallen noch wanken von dem Weg, auf welchem schon seit mehreren Jahren dein Vater mit dem Beispiel vorausgeht. So wirst du dann den nächsten Geburtstag nicht mit solchen Traumbildern beginnen, sondern gemäß deiner erkämpften Siege werden es Bilder der Zufriedenheit und der Ruhe sein, die dir das Bewusstsein geben, wenigstens einen Schritt weiter auf der Bahn deiner eigentlichen Bestimmung vorgerückt zu sein.
Ich gab dir dieses Mal diesen Traum in dieser Form um dich zu wecken und dir zu zeigen, dass auch oft unter nichts sagenden Vorwänden die Verführung lauschen könnte, und um dich aufmerksam zu machen auf deine Handlungen, damit du nicht auf einmal alle deine Lieblingsideen wie durch Erdbeben zerstörte Häuser und Leichen um dich herum liegen siehst, wenn solche Ideen nicht auf den Fels Meines Glaubens, sondern auf den Sandboden der weltlichen Vorurteile und irrigen Ansichten gebaut waren.
Deswegen trete, Mein Sohn, dieses neue Jahr als einen Zeitabschnitt deines Lebens mit dem Vorsatz an, Mich und Meine Lehren stets mehr kennen zu lernen, die Welt und ihre flüchtigen Freuden nur insoweit zu schätzen, als ihr eigentlicher Wert ist, und du wirst sehen, sie wird dir dann am Ende dieses Jahrs, wenn deine Seele wieder einen Besuch am Vorabend deines nächsten Geburtsfests macht, statt Leichenfelder und Ruinen bei ihrer Rückkehr Rosen und lebende, ewig nie verwelkende Güter dafür als Lohn reichen.
So nimm deinen Traum auf, behalte das Bild als Mahnung stets vor dir, und du wirst auch bei allenfallsigem Wanken doch die Hand deines Vaters von Oben nicht verkennen, Der dich zwar durch das Labyrinth des jugendlichen Lebens hindurchwandern lassen muss, weil es so allen gegangen ist; aber nur mit Kampf und Seinem Segen wirst du auch ruhig in den Hafen der geistigen Ruhe und des Selbstbewusstseins einlaufen, wo du zwar wirst sagen müssen, der Herr hat mir viele Stürme gesandt; allein, wenn ich glaubte, an den Klippen der Verführung sollte mein Lebensnachen [Lebensboot] zerschellen, so war es nur wieder Seine Hand, die Mich von Anfang an nicht verließ bis ich jetzt als erprobter Kämpfer aber auch von fern die Siegeskrone winken sehe! So möge es sein! Mein Segen begleitet dich, so lange du denselben anflehst; arbeite und dulde, aber siege auch! Dies ist dein Ziel, und Meine einzige Freude an euch allen, Meine lieben Kinder. Amen.
Quelle: Gottfried Mayerhofer am 10. Dezember 1870, Lebensgarten ‚Lebenswinke‘